Klinikpersonal entlasten

Alle reden vom Fachkräftemangel

08.08.2017

Alle reden vom Fachkräftemangel in der Pflege. Wie groß ist das Problem?

Das Deutsche Krankenhausinstitut (DKI) hat 2016 für den Pflegedienst auf Normalstationen in Krankenhäusern festgestellt, dass bundesweit knapp 3.900 Vollzeitstellen unbesetzt waren. Das entspricht weniger als zwei Prozent aller Stellen. Im OP- und Anästhesiedienst lag der Anteil mit rund drei Prozent etwas höher. Bei den Medizinisch-Technischen Assistent/innen blieben bundesweit 470 von etwa 27.000 Stellen unbesetzt. In den Intensivstationen sind nach einer Erhebung des DKI 2017 3.150 Stellen vakant, das sind (unter Berücksichtigung der Teilzeitquote) 4,7 %, bei den Hebammen lag der Anteil der offenen Stellen mit rund sechs Prozent am höchsten. Fazit: Von einem flächendeckenden Mangel an Fachkräften kann bislang keine Rede sein, auch wenn es regionale Unterschiede gibt.

Welche Interessen verfolgen die Krankenhausbetreiber in der derzeitigen Debatte?

Die Krankenhausbetreiber haben ein Interesse daran, das Problem der offenen Stellen schärfer zu zeichnen, als es ist. Damit wollen sie sich vor klaren und verbindlichen Personalvorgaben drücken. ver.di hat es geschafft, die gesetzliche Personalbemessung auf die politische Agenda zu setzen. Für sogenannte pflegesensitive Bereiche sollen Personaluntergrenzen entwickelt werden. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) gehörte bisher nicht zu den Befürwortern verbindlicher Personalvorgaben. Ihre Behauptung, die Versorgung sei gut und es gebe keine Personalnot, glaubt inzwischen wohl niemand mehr. Deshalb versucht die DKG nun, Personalvorgaben mit Verweis auf den Fachkräftemangel zu verhindern oder zu verwässern. Dabei könnte gerade dies der Schlüssel sein, um mehr Fachkräfte durch bessere Arbeitsbedingungen zu gewinnen.

 
Fachkräftemangel hausgemacht?

Die Krankenhäuser können sich die Fachkräfte aber doch nicht stricken. Wo sollen sie herkommen?

Bevor die Krankenhäuser über fehlende Fachkräfte klagen, sollen sie die Arbeitsfähigkeit ihrer vorhandenen Fachkräfte erhalten. Die Krankenhäuser verschleißen die Arbeitskraft und Gesundheit ihrer Beschäftigten. Die Fachkräfte stehen für den Einsatz im Betrieb massenhaft deshalb nicht zur Verfügung, weil sie

  • häufiger krank sind als Beschäftigte anderer Arbeitgeber
  • viel öfter wegen psychischen Erkrankungen lange ausfallen
  • öfter Frührehabilitation benötigen
  • wegen Überlastung ihren Arbeitsvertrag auf Teilzeit reduzieren
  • wegen nicht verlässlicher Arbeitszeiten häufiger in Teilzeit wechseln

So stellte die DAK-Gesundheit 2015 fest, dass bei den psychischen Erkrankungen auf 100 Versicherte 237 Ausfalltage kamen. Bei Beschäftigten des Gesundheitswesens waren es mit 358 Tagen über die Hälfte mehr (Psychoreport Gesundheit 2015). Der aktuelle BKK-Gesundheitsatlas kommt zu dem Fazit, dass die Arbeitsbedingungen in pflegerischen Berufen die Gesundheit der Pflegekräfte gefährden (BKK Gesundheitsatlas 2017). In der Krankenpflege können sich 77 Prozent der Beschäftigten nicht vorstellen, ihre Tätigkeit bis zum gesetzlichen Rentenalter ausüben zu können (Inifes 2015). Hätten die Krankenhäuser ihre Teilzeitquote von 2005 stabil gehalten, hätten sie allein deswegen heute 9.300 Vollzeitkräfte mehr an Bord. Würden die Krankenhäuser zu normalen Arbeitsbedingungen zurückkehren und Krankenstand, Teilzeitquote und frühe Verrentung auf den Durchschnitt aller Arbeitnehmer/innen in Deutschland senken, hätten sie mehrere zehntausend Fachkräfte mehr für ihre Dienstpläne zur Verfügung – Fachkräfte, die sie nicht auf dem Arbeitsmarkt gewinnen müssen, sondern die sie bereits unter Vertrag haben.

Was sind die tatsächlichen Ursachen für die Personalnot?

Der Personalmangel, den ver.di seit Jahren beklagt, ist nicht durch fehlende Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt, sondern durch wirtschaftliche Gründe entstanden. Zum ersten haben die Krankenhäuser im Zuge der Einführung des Fallpauschalen-Systems massenhaft Pflegepersonal abgebaut, weil sie sich dadurch bessere betriebswirtschaftliche Ergebnisse erwarteten. Die Unterbesetzung des Pflegedienstes im Verhältnis zur gestiegenen Patientenzahl dauert bis heute an. Zum zweiten kommen die Bundesländer ihrer Pflicht nicht nach, die Investitionen der Krankenhäuser zu finanzieren. Durchschnittlich investieren die Kliniken pro Jahr 5,3 Milliarden Euro. Knapp die Hälfte, rund 2,4 Mrd. Euro, stammen aus Eigenmitteln und Krediten. Mit diesem Geld könnten 44.000 Stellen bezahlt werden. Neuerdings stellt die DKG als Grund für den geringen Personalbestand stets die Knappheit am Arbeitsmarkt in Krankenhäusern dar. Ein finanzielles Argument nennt sie aber weiterhin: die ungenügende Refinanzierung von Lohnsteigerungen. In diesem Punkt hat die DKG recht.

Die DKG nennt die Vorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) in der Neonatologie als Beispiel dafür, dass von den Kliniken nichts »Unmögliches« verlangt werden dürfe. Ist da was dran?

Nein. Der Umgang mit der vom G-BA 2013 nach jahrelanger Debatte beschlossenen Neonatologie-Richtlinie ist vielmehr ein Beispiel dafür, dass die Krankenhäuser Probleme aussitzen statt sie zu lösen. Ab 2017 sollte es bei der intensivmedizinischen Versorgung Früh- und Reifgeborener rund um die Uhr eine Eins-zu-Eins-Versorgung mit einer Pflegefachkraft geben, um die Qualität zu sichern. Doch statt sich in den vier Jahren darauf vorzubereiten, haben die Klinikbetreiber die verbindliche Umsetzung kurz vor Inkrafttreten verhindert. Auf ihren Druck hin wurde sie um weitere drei Jahre verschoben. Qualitätsmängel bei der Patientenversorgung durch eine mangelhafte Personalausstattung werden billigend in Kauf genommen.

Sind das wirklich hausgemachte Probleme?

Dass Pflegekräfte aus ihrem Beruf fliehen oder ihre Arbeitszeit individuell verkürzen, hat viel mit Arbeitsüberlastung zu tun. Hinzu kommen eine, gemessen an Leistung und Verantwortung, unzureichende Bezahlung und fehlende Aufstiegsmöglichkeiten. Es ist also höchste Zeit, dass die Arbeitgeber ihre „Hausaufgaben“ erledigen.

Welche »Hausaufgaben« müssen die Arbeitgeber erledigen?

Die Kliniken haben es in der Hand, mit attraktiven Bedingungen dafür zu sorgen, dass Fachkräfte gewonnen und gehalten werden:

  • mit guter tariflicher Bezahlung und einer betrieblichen Altersversorgung.
  • mit verlässlichen Dienstplänen, die die Vereinbarkeit von Privatleben, Familie und Beruf ermöglichen.
  • mit attraktiven Ausbildungsbedingungen inklusive strukturierter Praxisanleitung, um junge Menschen optimal auf den Pflegeberuf vorzubereiten.
  • mit frühzeitigen Angeboten zur Übernahme nach der Ausbildung, um Auszubildende im Betrieb zu halten.
  • mit gesunden Arbeitsplätzen, die eine Arbeit in Vollzeit und bis zum gesetzlichen Rentenalter ermöglichen.

DKG-Präsident Thomas Reumann sagt: »Wir müssen aufhören, den Beruf der Pflege schlechtzureden.« Tut ver.di das?

Die Pflege ist ein toller Beruf, wenn die Bedingungen stimmen. Dass Pflegekräfte aus dem Beruf fliehen oder krank werden, liegt an den existierenden Rahmenbedingungen – nicht daran, dass der Beruf »schlecht geredet« wird. Den Kopf in den Sand zu stecken und so zu tun, als sei alles in bester Ordnung, wird nichts verbessern.

Die Krankenhäuser betonen, dass zusätzliches Personal auch entsprechend finanziert werden muss. Teilt ver.di diese Auffassung?

Klar ist: Die Krankenhäuser brauchen eine angemessene Finanzierung, um ausreichend Personal einstellen und notwenige Investitionen bezahlen zu können. Die Verantwortung dafür tragen Krankenkassen und Bundesländer – und letztlich auch die Bundesregierung. Allerdings muss die Finanzierung zweckgebunden erfolgen: Unbesetzte Stellen dürfen nicht finanziert werden. Krankenhäuser, die am Personal sparen, dürfen davon nicht profitieren. Das Geld für Gesundheitsversorgung und Personal muss also auch dort ankommen und darf nicht beispielsweise für Bauvorhaben zweckentfremdet werden.

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft behauptet, verbindliche Personalvorgaben gefährdeten die Patientenversorgung. Ist das so?

Ganz im Gegenteil. Wer will sich schon operieren lassen, wenn die ärztliche Versorgung nicht gewährleistet ist? Gleiches gilt für die Pflege. Studien belegen eindeutig: Müssen sich zu wenige Pflegekräfte um zu viele Patient/innen kümmern, leidet die Qualität und letztlich die Patientensicherheit. Sind Bereiche oder Stationen überlastet, müssen zum Beispiel planbare Eingriffe dorthin umgeleitet werden, wo die Patient/innen gut und sicher behandelt und gepflegt werden können. Grundsätzlich muss aber überall genug Personal zur Verfügung stehen. Für die Luftfahrt gilt: Aus Gründen der Passagiersicherheit darf kein Flugzeug abheben, wenn Cockpit und Kabine nicht vollständig mit dem vorgeschriebenen Personal besetzt sind. Nicht einzusehen, dass für die Patientensicherheit im Krankenhaus andere Maßstäbe angelegt werden.

Also doch genug Personal für eine gesetzliche Personalbemessung?

Genau. Zum einen wird das „Fachkräfteproblem“ von den Krankenhausbetreibern größer dargestellt als es ist. Zum anderen stehen genug Fachkräfte zur Verfügung, wenn die Arbeitgeber ihre Hausaufgaben machen. Krankenhäuser müssen attraktive Arbeitgeber sein und gute Arbeitsbedingungen anbieten. Der Fachkräftebedarf ist ein Argument für, nicht gegen eine gesetzliche Personalbemessung. Denn das beste Mittel zur Sicherung des Fachkräftebedarfs ist es, wenn Beschäftigte in den Krankenhäusern wieder in die Lage versetzt werden, ihren Beruf so auszuüben, wie sie ihn gelernt haben – und wenn sie dabei bis zur Rente gesund bleiben.

 

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