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»Pflege spielte so gut wie keine Rolle«

Der Pflege-Azubi Alexander Jorde fragte die Kanzlerin nach der Menschenwürde von Patient/innen und pflegebedürftigen Menschen – und trat eine breite öffentliche Debatte los. Alexander Jorde ist ver.di-Mitglied und macht eine Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger in einem Krankenhaus in Hildesheim.
09.10.2017
Krankenpflege-Auszubildender Alexander Jorde in der ARD-Wahlarena

Du hast in der ARD-Wahlarena die Bundeskanzlerin am 11. September 2017 sehr eindrücklich mit der Realität in der Pflege konfrontiert. Wie ist es dazu gekommen?

In einer Facebook-Anzeige stand, dass man sich bei einer der beiden Wahlarenen mit einer Frage bewerben kann. Ich wollte von der Bundeskanzlerin wissen, was sie dagegen tun will, dass die Würde von Menschen wegen der Überlastung der Pflegekräfte tausendfach verletzt wird.

Was hat dich motiviert, das zu tun?

Im Wahlkampf hatte das Thema Pflege davor so gut wie keine Rolle gespielt. Für mich sind die Missstände aber jeden Tag bei der Arbeit präsent. Doch die Politik will sich damit offenbar nicht beschäftigen. Angela Merkel ist jetzt seit zwölf Jahren Bundeskanzlerin. Deshalb trägt sie für die Zustände mit die Verantwortung. Der Pflegenotstand ist vielfach belegt. ver.di hat zum Beispiel mit dem Nachtdienstcheck gezeigt, dass fast zwei Drittel der Pflegefachkräfte nachts allein auf ihrer Station sind und dabei im Durchschnitt 26 Patientinnen und Patienten betreuen. Es ist klar, dass sie unter solchen Umständen nicht richtig versorgt werden können. Es gab Petitionen, Pflegewissenschaftler haben Studien geschrieben und so weiter, doch passiert ist wenig. Jetzt, nach zwölf Jahren als Kanzlerin, sagt Frau Merkel, sie mache das Thema zur Chefsache. Das hätte sie schon längst machen müssen.

Nach deinem Auftritt hat die Situation in der Pflege die letzten Tage des Bundestagswahlkampfs geprägt. Wie erklärst du dir diese enorme Resonanz?

 

Wenn sich nichts tut, will diesen tollen Beruf irgendwann keiner mehr machen.

Alexander Jorde

Ich glaube, das hat zwei Gründe. Zum einen bewegt das Thema viele. Nicht nur Pflegekräfte, sondern alle, die Verwandte oder Bekannte im Krankenhaus oder im Pflegeheim haben, sind mit dem Pflegenotstand konfrontiert. Ganz offensichtlich haben viele gehofft, dass jemand diese Frage mal stellt. Zum anderen war es vielleicht auch die Art und Weise, wie ich Frau Merkel gegenüber getreten bin. Ich habe mich ja nicht mit dem zufrieden gegeben, was sie gesagt hat, sondern wollte konkrete Antworten haben, die sie nicht gegeben hat. Manche meinten, dass sie in diesem Moment sehr wackelig gewirkt hat. Auch deshalb ist das von den Medien wohl aufgegriffen worden.

Was haben deine Kolleg/innen und Vorgesetzten zu deinem Auftritt gesagt?

Die Kolleginnen und Kollegen fanden das durchweg gut. Sie hoffen genauso wie ich, dass sich endlich etwas tut. Aber auch die Geschäftsführung hat positiv reagiert. Auch die Klinikleitung sieht die Probleme und ist daran interessiert, dass die Politik aktiv wird und die Krankenhäuser besser finanziert. Ich arbeite in einer gemeinnützigen GmbH. Bei uns wird – anders als bei privaten Betreibern wie Helios – kein Geld an Aktionäre ausgeschüttet.

Seither bist du ständig in den Medien. Wie fühlt sich das für dich an?

Im ersten Moment wirkte das Ganze irreal. An dem Tag der Wahlarena war ich noch in der Frühschicht und sitze dann abends mit der Kanzlerin in einem Raum und Millionen Leute gucken zu. Aber das macht man sich in dem Moment gar nicht so bewusst. Am Ende sind das auch alles nur Menschen. In meinem Privatleben hat sich nicht viel geändert, außer, dass ich in letzter Zeit nicht allzu viel Zeit für Privates habe. Ich muss mich ja auch noch auf die Klausuren vorbereiten.

Warum ist es wichtig, dass die Situation der Pflege den Politikern und der Öffentlichkeit bekannt wird?

 

Viele machen sich über so etwas keine Gedanken, bis sie selbst davon betroffen sind. Wir müssen den Leuten klar machen, was die Personalnot für den einzelnen Menschen bedeutet.

Alexander Jorde

Weil die Zustände dramatisch sind. Die Pflege ist ja nicht irgendein Berufszweig. Wenn bei VW zu wenige Leute sind, dann werden vielleicht weniger oder qualitativ nicht so hochwertige Autos produziert. In der Pflege geht es aber um Menschen. Wenn ich im Krankenhaus liege und auf meiner Station sind noch 39 andere Patientinnen und Patienten, die von nur einer Pflegekraft betreut werden; Ich kann mich nicht bewegen, muss aber auf Toilette und es kommt keiner – dann realisiert man, was der Pflegenotstand bedeutet. Oder ich habe Schmerzen im Thorax und Angst, ich könnte sterben, aber niemand kommt, weil die Pflegekraft nicht überall gleichzeitig sein kann. Viele machen sich über so etwas keine Gedanken, bis sie selbst davon betroffen sind. Wir müssen den Leuten klar machen, was die Personalnot für den einzelnen Menschen bedeutet.

Was muss sich konkret ändern?

Wir müssen in Deutschland andere Prioritäten setzen. Wenn wir uns zum Beispiel mit den skandinavischen Ländern vergleichen: Dort wird mehr für Gesundheit und die Daseinsvorsorge insgesamt ausgegeben, dafür ist die Versorgung auch sehr viel besser. Auch hier sollte mehr Geld in die Krankenhäuser und die Altenpflege gesteckt werden. Und es muss mehr reguliert werden. In allen Bereichen des Krankenhauses muss es verbindliche Personalstandards geben. In Deutschland ist so vieles reguliert, ob bei den Bauvorschriften oder sonstwo. Aber es gibt keine verbindlichen Regeln, wie viele Patientinnen und Patienten eine Pflegefachkraft maximal versorgen soll. Das muss sich schnellstens ändern. Auch die Bezahlung muss sich verbessern. Warum sollte jemand, der bei VW Scheiben in ein Auto einsetzt, doppelt so viel verdienen wie eine Fachkraft in der Altenpflege, die eine dreijährige Berufsausbildung absolviert hat und Verantwortung für Menschenleben trägt? Wenn sich nichts tut, will diesen tollen Beruf irgendwann keiner mehr machen.

 

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