Therapieberufe

Therapieberufe attraktiver machen

Kolleg*innen aus der Praxis erklären, was sie von einer Reform der therapeutischen Berufe erwarten: hohe Qualitätsstandards, kein Schulgeld und angemessene Ausbildungsvergütung
29.12.2020
Physiotherapeut im Einsatz

Denis Rachau arbeitet in der neurologischen Physiotherapie einer Reha-Klinik in Baden-Württemberg:

»Angesichts des Fachkräftemangels steht fest: Die Therapieberufe müssen attraktiver werden. Entscheidend dafür ist, dass das Schulgeld abgeschafft und eine angemessene Ausbildungsvergütung garantiert werden. Es ist nicht einzusehen, dass diese so wichtigen und hoch qualifizierten Berufe benachteiligt sind. Statt mich voll aufs Lernen zu konzentrieren, musste ich während meiner Ausbildung Pizza ausfahren und am Wochenende in der Gastronomie arbeiten, um über die Runden zu kommen. Dabei arbeiten die Auszubildenden in der Physiotherapie während ihrer Praxiseinsätze voll mit, behandeln eigenständig Patientinnen und Patienten. Dass dies überhaupt nicht honoriert wird, grenzt an Ausbeutung. Klar ist: Die Ausbildung muss im Vordergrund stehen, die Qualität gestärkt werden. Die Abschaffung des Schulgelds und eine angemessene Vergütung würden das Ansehen des Berufs steigern. So könnten sicher viele gewonnen werden, die sich jetzt gegen diese Ausbildung entscheiden, weil sie es sich schlicht nicht leisten können.«

 

Sabine Seyfert-Hellwig ist Physiotherapeutin und Mitglied im Vorstand des ver.di-Bundesfachbereichs Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen:

»Die Ausbildung in den Therapieberufen muss dringend reformiert werden. Ich fände es aber falsch, statt einer Berufsausbildung ein grundständiges Studium daraus zu machen. Denn die Physiotherapie ist auch ein Handwerk, das in der Praxis erlernt werden muss. Ganz klar: Wir brauchen eine evidenzbasierte Versorgung. Die Forschung muss in die Praxis geholt werden. Eine berufliche Ausbildung kann das meiner Ansicht nach allerdings besser leisten als ein Hochschulstudium, das naturgemäß praxisferner ist. Als Ergänzung ist das Studium für künftige Forscher*innen und auch Lehrkräfte sinnvoll. Letztere brauchen freilich zudem eine pädagogische und didaktische Qualifikation, damit sie ihr Wissen gut vermitteln können.

Insgesamt gilt es, einheitliche Curricula und Qualitätsstandards in der Ausbildung zu etablieren. Das heißt unter anderem: Gut ausgebildetes pädagogisches Personal, das auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand unterrichtet. Und auch die Praxisanleitung muss durch dafür qualifiziertes Personal ausgeführt werden, das für diese Tätigkeit freigestellt wird. Eine einheitlich hochwertige Ausbildung ist die Grundlage dafür, die Kompetenzen von Therapeutinnen und Therapeuten zu erweitern. Derzeit dürfen wir nur das tun, was von Ärzt*innen verordnet wird. Viel sinnvoller wäre es, wenn wir selbst entscheiden könnten, welche Therapie in welchem Umfang angemessen ist. Wenn zum Beispiel jemand nach einer Knie-OP kommt, die noch im akut entzündlichen Prozess ist, kann es zielführender sein, erstmal Lymphdrainagen zu machen, damit die Schwellung zurückgeht, und erst danach Krankengymnastik. Wenn in der ärztlichen Verordnung aber nur Letzteres steht, darf ich das als Physiotherapeutin nicht eigenständig ändern. Daher brauchen wir mehr Freiräume, zum Beispiel durch sogenannte Blankoverordnungen, bei denen Ärzt*innen nur noch die therapeutische Behandlung verordnen, Art und Häufigkeit aber von den Therapeut*innen festgelegt werden.

Einheitlich hohe Ausbildungsstandards könnten auch dafür sorgen, dass wir nicht ständig auf eigene Kosten Weiterbildungen machen müssen. Zum Beispiel Lymphdrainagen und manuelle Therapien sollten Teil der Grundausbildung sein und danach abgerechnet werden können. Das würde den Beruf attraktiver machen.«

 

Natalie Müller* arbeitet als Logopädin in einem Krankenhaus in Niedersachsen und ist bei ver.di aktiv:

»Wer die therapeutischen Berufe zukunftsfest machen will, muss vor allem für eine angemessene Vergütung sorgen. Wir leisten hoch qualifizierte Arbeit und tragen eine hohe Verantwortung – das muss honoriert werden. Gerade in den kleinen Praxen, in denen es kaum Tarifverträge gibt, wird oft schlecht bezahlt – auch, weil Leistungen durch die Krankenkassen unzureichend vergütet werden. Zudem braucht es gute Ausbildungsstandards. Die Praxisanleitung sollte nicht mehr nur nebenher laufen. Die Anleiter*innen müssen regelmäßig auf den neuesten Stand gebracht werden. Hier sind klare gesetzliche Vorgaben nötig.

Die Forderung nach einer Akademisierung der therapeutischen Berufe sehe ich kritisch. Die Hochschulen sind wichtig, um die Forschung voranzutreiben und eine evidenzbasierte Versorgung zu ermöglichen. Die Ausbildung insgesamt an die Hochschulen zu verlegen, hielte ich aber für den falschen Weg. Denn Studierte sind nicht unbedingt die besseren Therapeut*innen. Ich fürchte, dass die Praxis dann zu kurz kommt. Ich glaube auch nicht, dass ein Studium per se attraktiver ist und den Fachkräftemangel beheben würde. Viel wichtiger ist es, dass das Schulgeld flächendeckend abgeschafft wird. Bei uns ist das geschehen, seither haben wir viel mehr Auszubildende in den Kursen.«

*Um Probleme mit ihrem kommerziellen Arbeitgeber zu vermeiden, möchte sie ihren richtigen Namen nicht im Internet lesen.

 

Peter Gramann ist Leiter der Logopädieschule an der Medizinischen Hochschule Hannover. Er ist ver.di-Mitglied und im Bundesverband Deutscher Schulen für Logopädie aktiv:

»Logopädie ist ein toller Beruf, bei dem man im intensiven Kontakt mit Menschen ist und viel bewegen kann. Es ist eine sowohl theoretisch als auch praktisch anspruchsvolle Ausbildung, bei der fundierte medizinische, kognitive und psychologische Kenntnisse vermittelt werden. Daher ist eine hohe Ausbildungsqualität so wichtig, auch im praktischen Teil. Gerade zu Beginn müssen die Auszubildenden eng begleitet werden. Ich halte es daher für sinnvoll, die therapeutische Ausbildung zunächst in der Schule durch dafür qualifizierte Lehrkräfte umzusetzen, bevor die Auszubildenden in externe Praxiseinsätze gehen. Sie müssen ihre Rolle finden, lernen, die Patient*innen da abzuholen, wo sie sind, und sich individuell auf sie einzustellen. Vor diesem Hintergrund wären einheitliche Qualitätsstandards wichtig, deren Einhaltung auch überprüft wird. So muss zum Beispiel sichergestellt sein, dass genug qualifiziertes Personal zur Verfügung steht, um die Auszubildenden bestmöglich zu unterstützen, sie anzuleiten und die Therapien gemeinsam zu reflektieren. Das derzeit geltende Schulgesetz stammt noch aus dem Jahr 1980! In den über 40 Jahren hat sich die Profession natürlich stark verändert und weiterentwickelt. Hier besteht Handlungsbedarf.

Angesichts der großen Herausforderungen in der Ausbildung ist es gut, dass diese im öffentlichen Dienst nun bezahlt wird. Das bedeutet für die Auszubildenden eine deutliche Entlastung. Vorher mussten viele abends oder am Wochenende jobben gehen, das war sehr anstrengend für sie. Die Ausbildung wird dadurch attraktiver. Jetzt muss auch der Beruf selbst weiter aufgewertet werden – auch finanziell. Bei den Lehrkräften hat sich die Bezahlung mit den letzten Tarifabschlüssen schon verbessert. Aber in der Logopädie selbst müssen die Arbeitgeber noch etwas tun, sonst wandern die dringend benötigen Fachkräfte in andere Bereiche ab.«

 

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