Psychiatrie

Ein Schritt vor, vier Schritte zurück

Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Personalausstattung in der Psychiatrie enthält wenig Positives und viel Schlechtes. Letztlich gefährdet sie eine gute Versorgung
06.11.2019
Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA)

Am 22. Oktober 2019 hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) die Richtlinie »Personalausstattung Psychiatrie und Psychosomatik« (PPP-RL) veröffentlicht. Zum Jahreswechsel soll sie die bisherige Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV) ablösen. Sie wird dann das verbindliche Dokument sein, das regelt, wie viele Beschäftigte sich in den psychiatrischen und psychosomatischen Krankenhäusern und Fachabteilungen um wie viele Patient*innen kümmern.

Angesichts der hohen Arbeitsbelastung ist dringend notwendig, die veraltete Psych-PV und das tatsächlich vorhandene Personal aufzustocken. In den 30 Jahren ihres Bestehens hat sich die Psychiatrie enorm weiterentwickelt. Doch die Personalentwicklung hat mit den neuen Behandlungskonzepten und gestiegenen Anforderungen nicht mitgehalten. Es ist Zeit, hier anzupacken. Zeit für eine Psych-PV plus.

Doch die Richtlinie wird den Erwartungen an eine moderne, bedarfsgerechte, verbindliche Personalausstattung nicht gerecht. Ein Schritt vorwärts ist die Festlegung von Standards, die in der IST-Besetzung der Stationen nicht unterschritten werden dürfen. Doch dem stehen vier große und viele kleine Schritte rückwärts bzw. in die falsche Richtung entgegen.

Schritt vorwärts: verbindliche Mindeststandards

 

Die Psych-PV hat vorgegeben, wie viele Vollzeitstellen pro Berufsgruppe ein Krankenhaus finanziert bekam und zu besetzen hatte. Es gab jedoch keine verbindliche Regelung, dass dieses Personal tatsächlich vor Ort sein musste. In der Praxis waren die IST-Dienstpläne in vielen Einrichtungen, die auf dem Papier die Psych-PV erfüllten, weit von den Vorgaben der Verordnung entfernt.

Die neue Richtlinie legt fest, dass pro Patient*in, je nach Behandlungsbereich (zum Beispiel Regel- oder Intensivbehandlung) eine bestimmte Stundenzahl pro Berufsgruppe tatsächlich gearbeitet werden muss. Nachzuweisen ist dies zusammengefasst monatlich für die einzelnen Stationen sowie quartalsweise für die gesamte Einrichtung – differenziert nach Erwachsenenpsychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychosomatik. Es ist gut, wenn klargestellt und kontrolliert wird, dass dieses Personal wirklich vor Ort ist. Denn: Für gute Versorgung muss die tatsächliche Personalausstattung vorgeschrieben und kontrolliert werden!

Schritt zurück: keine Personalbemessung

Allerdings reichen Personalmindestvorgaben nicht aus. Um die Dienstpläne tatsächlich mit dem erforderlichen Personal füllen zu können, müssen neben den konkret zu leistenden Arbeitsstunden auch Ausfallquoten, Stellen für Leitungskräfte, Querschnittsaufgaben und anderes berücksichtigt werden. Diese zusätzlichen Stellenanteile machen einen erheblichen Teil des Personals aus. Sie sind in der Richtlinie jedoch nicht geregelt. Über sie soll in den lokalen Budgetverhandlungen entschieden werden. Es steht zu befürchten, dass dort systematisch zu wenig Personal zum Beispiel für Ausfallzeiten eingeplant und finanziert wird, wie bisher auch schon. Beispielsweise ein gutes Ausfallmanagement ist dann nicht möglich. Die Richtlinie ist damit ausdrücklich keine Personalbemessung. Hinzu kommt, dass auch die Personalbesetzung im Nachtdienst weiterhin nicht verbindlich geregelt ist. Wir halten dagegen: Bedarfsgerechte Personalausstattung darf nicht von örtlichen Budgetverhandlungen abhängen, die Zahl der Stellen muss verbindlich vorgeschrieben und ausfinanziert werden!

Schritt zurück: 85 Prozent Psych-PV sind zu wenig

Die Richtlinie enthält Minutenwerte, die angeben, wieviel Personal pro Patient da sein muss. Diese orientieren sich allerdings weitgehend an den veralteten Werten der Psych-PV und werden zudem für einen Übergangszeitraum noch abgesenkt. Die dringend notwendige Aufstockung ist fast überall ausgeblieben. Aufgestockt wird lediglich in der Kinder- und Jugendpsychiatrie (pauschal 5 Prozent), bei der Pflege von Patient*innen im Behandlungsbereich »intensiv« (10 Prozent) sowie bei den Psycholog*innen (60 Prozent von sehr niedrigem Startniveau), zu denen jetzt auch die Psychologischen Psychotherapeut*innen gehören sollen. Selbst hier bleiben die Vorgaben aber unter dem Nötigen. Für alle anderen Bereiche sind die alten Minutenwerte auch die neuen. Das ist zu wenig! Auch der gestiegene Personalbedarf für Zwangs- und Gewaltvermeidung wird nicht abgebildet – zum Beispiel für 1:1-Betreuungen zur Vermeidung von und während Zwangsfixierungen, die massiv zugenommen haben.

Hinzu kommt: Diese niedrigen Werte müssen in den ersten zwei Jahren nur zu 85 Prozent, in den folgenden zwei Jahren zu 90 Prozent erfüllt werden. Erst 2024 wird wieder eine Erfüllung der vollen Tabellenwerte gefordert – de facto also weitgehend der alten Psych-PV. Bis dahin sollen auch die Minutenwerte überarbeitet werden – in welche Richtung ist allerdings unbekannt. Dabei steht fest: Mit zu wenig Personal ist menschenwürdige Versorgung nicht zu leisten!

 

Gesetzgeber muss handeln

Die Richtlinie hat entscheidende Webfehler. Der G-BA war in mehr als drei Jahren nicht in der Lage, den ihm gesetzten Auftrag zu erfüllen, mit der Richtlinie zu einer leitliniengerechten Behandlung beizutragen. Er ist nicht das geeignete Gremium, um solche Normen zu setzen. Dafür braucht es eine Expertenkommission mit Beteiligung von Praktiker*innen und Expert*innen aus fachlicher und Arbeitsorganisationsperspektive. Diese muss für Regelungen sorgen, die sowohl die Ist-Personalausstattung als auch die zu finanzierenden Stellen bedarfsgerecht festschreiben. Dafür muss der Gesetzgeber jetzt sorgen.

Interessenvertretungen und ver.di-Aktive in den Betrieben sollten jetzt darauf hinarbeiten, dass die reale Personalausstattung über die Richtlinie hinausgeht, um Patient*innen und Beschäftigte zu schützen.

 

Schritt zurück: Können alle alles?

Im Prinzip muss pro Berufsgruppe monats- und stationsbezogen nachgewiesen werden, dass das vorgeschriebene Personal da ist. Allerdings werden dabei neue Berufsgruppen einfach den bisherigen Berufsgruppen hinzugefügt, zum Beispiel Kunsttherapeut*innen zu den Ergotherapeut*innen, Heilerziehungspfleger*innen zu den Erzieher*innen und Psychologische Psychotherapeut*innen zu den Psycholog*innen. In den meisten Fällen ohne dass die Minutenwerte entsprechend aufgestockt werden.

Darüber hinaus wird eine weitgehende Anrechenbarkeit der Berufsgruppen untereinander festgesetzt – Therapeut*innen und Sozialarbeiter*innen können als Pflegekräfte angerechnet werden und umgekehrt, wenn sie die Regelaufgaben der jeweils anderen Berufsgruppe erledigen. Gleiches gilt für Psycholog*innen und Ärzt*innen. Auszubildende werden auf die Erfüllung der Minutenwerte im Verhältnis 1:9,5, Leiharbeitskräfte voll angerechnet. Da die gearbeiteten Minuten berechnet werden, zählen für die Erfüllung der Richtlinie auch Überstunden. Wir meinen: Eine gewisse Flexibilität ist sinnvoll – eine praktisch unbegrenzte Austauschbarkeit der Berufsgruppen, auch auf gleichem Qualifikationsniveau, ist hingegen nicht sachgerecht!

Schritt zurück: Sanktionen: zu spät, die falschen, unklar

Im Jahr 2020 bleibt eine Unterschreitung sogar der abgesenkten Psych-PV-Werte sanktionslos. Ab 2021 sollen finanzielle Sanktionen greifen: Bei Unterschreitung der Mindestvorgaben pro Quartal und Einrichtung droht dem Krankenhaus eine Vergütungskürzung. Allerdings ist noch völlig offen, wie diese berechnet wird. Das bringt weder Patient*innen noch Beschäftigten etwas. Sinnvoll wäre eine Einschränkung der Patientenaufnahme, bis das notwendige Personal wieder an Bord ist. Nur so ist eine bedarfsgerechte, menschenwürdige Versorgung der aufgenommenen Patient*innen zu gewährleisten. Für uns steht fest: Bei Personalnot ist Leistungseinschränkung das richtige Mittel, nicht Vergütungskürzung!

 

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