»Es geht um Gewinne«

17.07.2017
Manfred Fiedler

Manfred Fiedler war Gewerkschaftssekretär der ver.di-Vorläuferorganisation ötv und später Arbeitsdirektor am Klinikum Dortmund. Heute arbeitet er als freiberuflicher Berater und Publizist im Gesundheitswesen. Er ist beim globalisierungskritischen Netzwerk Attac aktiv und hat an der Broschüre »Krankenhaus statt Fabrik« mitgearbeitet.

drei: Personalmangel, Hygieneskandale, Investitionsstau – was ist los in den deutschen Krankenhäusern?

Manfred Fiedler: Das ab 2003 geschaffene Finanzierungssystem über Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRG) hat marktwirtschaftliche Mechanismen im Krankenhauswesen etabliert. Es geht darum, Gewinne zu erzielen. Dies geschieht, indem weniger und billigeres Personal mehr Patientinnen und Patienten versorgt. Das gilt sowohl für Pflegekräfte als auch für Beschäftigte in Wäscherei, Reinigung, Sterilisation und anderen Servicebereichen. Profitorientierte, private Krankenhäuser sind beim pflegerischen und medizinisch-technischen Personal pro Fall deutlich schlechter besetzt als andere. Und sie bezahlen ihren Beschäftigten im Durchschnitt 10 bis 15 Prozent weniger als öffentliche Träger.

Aber die Bedingungen sind nicht nur in privaten Einrichtungen schlecht.

Nein. Der Wettbewerb mit den Privaten setzt öffentliche und freigemeinnützige Krankenhäuser unter Druck, sich an die profitorientierten Strukturen anzupassen. Auch sie versuchen, mehr Leistungen mit dem gleichen oder sogar weniger Personal zu erbringen. Sie müssen das tun, um wirtschaftlich zu überleben und nicht vom Markt zu verschwinden. Zugleich ziehen private Konzerne viel Geld aus dem System. Sie fordern von ihren Häusern Umsatzrenditen von sechs bis 14 Prozent. Geld, das für eine gute Gesundheitsversorgung gedacht ist, landet in den Taschen von Aktionären. Die privaten Klinken sind für zwei Drittel der Ausgabensteigerungen seit Einführung des DRG-Systems verantwortlich, obwohl sie nur 16 Prozent der Patientinnen und Patienten behandeln.

Wie ist es zu all dem gekommen?

In den 1990er Jahren wurde intensiv über ein »leistungsorientiertes« Finanzierungssystems diskutiert. Im Gesundheitsstrukturgesetz von 1992 war dessen Einführung vorgesehen. 1996/97 hatte der damalige Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) davon eigentlich schon Abstand genommen, weil er erkannt hatte, dass die Gesundheitsausgaben insgesamt deutlich steigen würden. Der Grund: Dadurch, dass das einzelne Krankenhaus nicht mehr die betrieblich notwendigen Kosten bezahlt bekommt, sondern nur noch zum für alle gleichen Preis wirtschaften muss, entsteht zwar ein immenser Kostendruck. Gerade deshalb aber müssen die Häuser versuchen, immer mehr Fälle und damit Umsatz zu generieren. Die Folge: Die gesellschaftlichen Kosten für die Krankenhausversorgung steigen. Dennoch hat die rot-grüne Koalition 1999 die flächendeckende Einführung des Systems der Fallpauschalen beschlossen. Ab 2004 wurde es für alle Krankenhäuser verbindlich. Seither werden Krankenhausleistungen pauschal und nach landesweit einheitlichen Preisen bezahlt.

Welche Auswirkungen hat das?

Alle Krankenhäuser sind permanent gezwungen, ihre Kosten zu senken. Sie haben insbesondere in der Pflege und im Servicebereich massiv Personal abgebaut und Fachkräfte teilweise durch geringer qualifizierte Beschäftigte ersetzt. Die Zahl der Pflegestellen ist zuletzt zwar wieder etwas gestiegen, dennoch müssen Pflegekräfte heute viel mehr Patientinnen und Patienten betreuen als vor Einführung der DRGs. Denn die Krankenhäuser reagieren auf den ökonomischen Druck damit, dass sie die Fallzahlen steigern und die Verweildauer senken, indem sie die Menschen schnell »durchzuschleusen«, um »Kapazitäten« für neue Fälle freizumachen. Gleichzeitig hat die durchschnittliche Schwere der Fälle seit Einführung der DRGs um fast zehn Prozent zugenommen. Das heißt: Weniger Beschäftigte versorgen mehr und behandlungsbedürftigere Patientinnen und Patienten.

Als ehemaliger Arbeitsdirektor im Klinikum Dortmund haben Sie tiefe Einblicke in das Krankenhausmanagement. Haben die Klinikleitungen die Möglichkeit, anders zu handeln, als Personal abzubauen, die Fallzahlen zu steigern und Löhne zu drücken?

Wir haben das seinerzeit versucht. Doch um die Gründung einer Servicegesellschaft sind auch wir nicht herumgekommen. Wir hatten das in Kooperation mit ver.di dadurch kompensiert, dass fremd vergebene Bereiche wieder zurückgeholt wurden. Zugleich haben wir wie alle Häuser versucht, lukrative Einnahmen zu generieren. Wir konnten beispielsweise in der Herzchirurgie Interventionen anbieten, die besonders hohe Preise brachten. Durch so etwas kann man andere Bereiche quersubventionieren. Dennoch: Für das einzelne Klinikmanagement ist es kaum möglich, grundlegend anders zu agieren.

Gerade öffentliche Häuser haben strukturelle Nachteile. Ein Beispiel: Wir haben in der Notfallversorgung Kapazitäten in allen Bereichen vorgehalten. Das ist sehr teuer und bringt wenig ein. Private Kliniken, die nicht auf diese Weise Verantwortung für die regionale Versorgung übernehmen, haben eine bessere Kostenstruktur. Ähnlich ist es bei der Versorgung von Politraumata. Hierfür müssen jederzeit Behandlungskapazitäten zur Verfügung stehen. Doch wenn niemand einen schweren Unfall hat – was natürlich gut ist – hat das Krankenhaus sofort Einbußen in teilweise sechsstelliger Höhe pro Fall. Das kann es nicht durch Steigerungen in anderen Bereichen kompensieren. Es ist schon pervers, dass Krankenhäuser darauf hoffen müssen, schwere Fälle aufzunehmen. Fazit: Die Spielräume einzelner Kliniken sind sehr begrenzt; das Problem liegt im System.

Was wäre denn die Alternative zum DRG-System?

Im Bündnis »Krankenhaus statt Fabrik« – das breit aufgestellt ist und Gewerkschaften, Attac, den Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte und viele andere Organisationen umfasst – führen wir diese Diskussion, haben aber keine grundlegende Alternative ausbuchstabiert. Ich persönlich meine, dass Krankenhäuser Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge sind, die eine sichere und bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung aller Menschen sicherstellen müssen. Das heißt: Auch die Vorhalteleistungen, die das garantieren, müssen angemessen finanziert werden. Desweiteren ist eine gesetzliche Regelung nötig, die den Häusern sowohl quantitativ als auch qualitativ vorschreibt, wie viel Personal vorzuhalten ist. Die Personalbemessung muss sich nach dem Bedarf richten. In der Konsequenz heißt das, dass die Krankenhäuser nicht nur Leistungen abrechnen, sondern auch belegen müssen, wie viel Personal mit welchen Qualifikationen zur Verfügung steht.

Warum ist es so wichtig, auch bezüglich der Qualifikation Vorgaben zu machen?

Es macht ja einen großen Unterschied, ob eine examinierte Pflegekraft oder eine Pflegehelferin auf der Station ist. Auch darf es nicht sein, dass Auszubildende so eingesetzt werden wie ausgebildete Pflegekräfte. Gleiches gilt für Praxisanleiter/innen, die oft voll in die Arbeit eingebunden sind und daher keine Zeit haben, Auszubildende richtig anzuleiten. Das passiert, wenn Kliniken nicht genug Geld bekommen und die Verwendung der Mittel nicht kontrolliert wird.

Auch im ärztlichen Dienst sind Vorgaben nötig. Es werden vor allem im Bereich der Diagnose und Kodierung Stellen geschaffen, weil das erlösrelevant ist. Die gute ärztliche Betreuung auf Station bringt kein zusätzliches Geld, hier wird gespart. Gerade private Krankenhäuser sparen auch dadurch, dass sie weniger Assistenzärzt/innen beschäftigen. Sie tun also weniger für die Facharzt-Weiterbildung. Es muss Vorgaben geben, wie viele Assistenzarztstellen ein Krankenhaus einrichten muss. Der Zeitaufwand für die Weiterbildung muss definiert und bezahlt werden.

Sind die Kliniken insgesamt eigentlich unterfinanziert, wie es die Deutsche Krankenhausgesellschaft immer wieder behauptet?

Wenn man sich die Gesamtausgaben anschaut, kommt man zu dem Schluss: Es ist eigentlich genug Geld da, es ist nur falsch verteilt. In einigen Bereichen besteht eine Überversorgung, andere sind unterversorgt, weil sie im DRG-System schlecht abgebildet werden. Das System der Fallpauschalen verteilt das Geld nach falschen Kriterien. Deutschland hat in der Kardiologie und der Orthopädie die weltweit höchsten Fallzahlen – weil damit Geld verdient wird, nicht weil es medizinisch sinnvoll ist. Die Folge ist, dass das Krankenhauswesen teurer, die Patientenversorgung und die Arbeitsbedingungen aber schlechter werden. Wenn private Kliniken sechs bis 14 Prozent Gewinn abschöpfen, fehlt dieses Geld für eine gute Gesundheitsversorgung und Personal.

Hinzu kommt, dass die Krankenhäuser aufgrund der unzureichenden Investitionsförderung der Länder ihre Investitionen zunehmend aus DRG-Erlösen finanzieren müssen. Das verstärkt die Effekte des DRG-Systems, medizinisch-pflegerische Entscheidungen nach Rentabilitätskriterien zu fällen. Letztlich ist das teurer und es schadet den kranken Menschen, wenn nicht die medizinisch-pflegerische Entscheidung der wichtigste Maßstab ist. Deswegen müssen die Investitionen vollständig separat, also dual finanziert werden.

Wie könnten die Ausgaben für Krankenhäuser begrenzt werden?

Wer das will, muss verhindern, dass Geld zweckentfremdet und für unsinnige Dinge eingesetzt wird. Statt ständig zu versuchen, die Verweildauer zu senken, sollten die Strukturen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung verbessert werden. Statt betriebswirtschaftlich zu denken, sollten wir auf das System insgesamt schauen. Es ist nicht entscheidend, wie teuer die einzelne Leistung ist, sondern was das Gesamtsystem kostet. Wir können ein System schaffen, das sowohl für alle bezahlbar ist als auch gute Ergebnisse liefert. Doch dafür muss sich das Denken verändern. Die Gesundheit der Patientinnen und Patienten muss wieder im Mittelpunkt stehen, nicht die Gewinnerzielung. Nicht umsonst haben wir unser Bündnis »Krankenhaus statt Fabrik« genannt.

Interview: Daniel Behruzi, Juli 2017

 

Krankenhaus statt Fabrik

Das Bündnis »Krankenhaus statt Fabrik« will über Ursachen und Auswirkungen der Kommerzialisierung aufklären. Einen sehr gehaltvollen Beitrag dazu leistet es mit einer Broschüre, die »Fakten und Argumente« zum System der Fallpauschalen zusammenträgt. Die Texte sind hoch informativ, aber dennoch gut lesbar. Es wird deutlich, dass die Personalnot in den Kliniken kein Zufall, sondern Folge politischer Entscheidungen ist. Das heißt auch: Die Rahmenbedingungen können wieder verändert werden – wenn der Druck groß genug ist. www.krankenhaus-statt-fabrik.de/196