»Als ob der Notstand ausgerufen wurde«

Studie zur Mitbestimmung in der Pandemie
18.11.2021


»Es wurde so getan, als ob der Notstand ausgerufen wurde und die Mitarbeitenden wie Leibeigene zwischen den Häusern oder auch zwischen den Diensten hin und her getauscht werden dürfen. Arbeitszeitgesetze wurden ohne Absprache mit der MAV, beispielsweise Zwölf-Stunden-Dienste, außer Kraft gesetzt. Dienstpläne wurden permanent, teilweise von Tag zu Tag, ohne Absprache mit den Mitarbeitenden geändert. Mitarbeitende, die sich dem nicht unterwarfen, wurden bis zum Maximum ins Minus gefahren, nachdem alle Überstunden durch den Dienstgeber ohne Absprache mit den Mitarbeitenden abgebaut waren. Mitarbeitende wurden teilweise zum Nehmen ihres Jahresurlaubs verpflichtet. Maßnahmen des Gesundheitsschutzes wurden nicht mit der MAV besprochen, Gesundheitsrisiken wurden (sicherlich auch aufgrund des Materialmangels) kleingeredet.«

So beschreibt der Mitarbeitervertreter eines diakonischen Krankenhauses die Situation in der ersten Welle der Corona-Pandemie. Der Bericht ist kein Einzelfall. In vielen Betrieben setzten Geschäftsleitungen auf einseitige Maßnahmen, ohne die Mitwirkungsrechte der betrieblichen Interessenvertretungen zu beachten. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der TU Darmstadt, die sich unter anderem auf das Gesundheits- und Sozialwesen bezieht und in einem Beitrag für die WSI-Mitteilungen zusammengefasst wird. »Längst nicht überall wurden die Mitbestimmungsrechte von Geschäftsführungen ignoriert«, stellt der Soziologie-Professor Ulrich Brinkmann klar. »Aber es waren auch nicht nur Einzelfälle. Teilweise aus Überforderung, teilweise aus Kalkül versuchten etliche Arbeitgeber, die demokratische Mitgestaltung in der Pandemie außer Kraft zu setzen.« Das ging so weit, dass manche ihren Belegschaftsvertretungen »Generalvollmachten« zur Unterschrift vorlegten, mit denen diese im pandemischen »Ausnahmezustand« auf sämtliche  Mitbestimmungsrechte verzichten sollten.

Ein Kollege aus einer diakonischen Einrichtung der Behindertenhilfe berichtet in der anonymisierten Befragung, an der sich viele Beschäftigte kirchlicher Einrichtungen beteiligten, die Mitarbeitervertretung sei oft nicht einmal informiert worden. »Das Direktionsrecht wurde ohne Beteiligung der MAV bei der pandemiebedingten Umsetzung von Kolleginnen und  Kollegen angewandt, ebenso bei der Planung der Arbeitszeit.« Allerdings sei die Mitbestimmung auch schon vor der Pandemie oft missachtet worden. Letzteres ist laut Brinkmann typisch: »Wo vor Corona eine gute Mitbestimmungskultur bestand, arbeiteten die Betriebsparteien in der Ausnahmesituation meist gut zusammen - oft sogar noch intensiver als zuvor«, erklärt der Soziologe. »Und umgekehrt: Wo das Management die Mitbestimmung ohnehin als störend empfindet, spielte sie während der Pandemie oft gar keine Rolle mehr.«

Noch einen weiteren Faktor hat das Darmstädter Wissenschaftlerteam identifiziert: die gewerkschaftliche Anbindung der Mitarbeitervertretung und die Organisationsmacht der Belegschaft. »Wo die Interessenvertretung in engem Austausch mit der Gewerkschaft steht, ist sie besser über die rechtliche Lage informiert und lässt sich ihre Rechte nicht so  einfach nehmen«, bilanziert Brinkmann. »Hier besteht ein ziemlich eindeutiger Zusammenhang.« Keine entscheidende Rolle spielten hingegen die Trägerschaft oder die Größe der Einrichtung. »Ob öffentlich, privat, freigemeinnützig oder kirchlich – in allen Trägerformen haben wir problematische Fälle gefunden, in denen die Mitbestimmung teilweise oder quasi  vollständig außer Kraft gesetzt war.«

Das bedeutet in der Konsequenz: Ob Beschäftigte ihre individuellen und kollektiven Rechte verteidigen können, hängt auch von ihnen selbst ab. Sind viele in ver.di organisiert, tauschen sich ihre Vertreter*innen mit anderen aus und sind konfliktfähig, dann bestehen sie den »Stresstest«, den die Pandemie unzweifelhaft auch für die betriebliche Mitbestimmung darstellt. 

Daniel Behruzi/Ulrich Brinkmann/Tanja Paulitz: Corona-Krise – Stresstest für die Mitbestimmung, in: WSI-Mitteilungen 4/2021, S.296-305

 


Dieser Artikel ist im Kirchen.info Nr. 38 erschienen.

 

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