Erfolgreiche Tarifverhandlungen

Tarifergebnis für die diakonische Altenpflege Hessen
18.11.2021
Protestaktion bei Mission Leben Rüsselsheim


Höhere Monatsentgelte, eine geringere Wochenarbeitszeit, verlässlichere Dienstpläne, höhere Zeitzuschläge für Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit, 150 Euro Mitgliederbonus sowie die Möglichkeit, sich bei künftigen Tarifverhandlungen für die eigenen Forderungen einsetzen zu können – all das ist für viele diakonisch Beschäftigte in der Altenpflege in Hessen nicht mehr nur eine Wunschvorstellung. Es ist das Ergebnis der Tarifverhandlungen zwischen ver.di und dem Arbeitgeberverband Diakonische Altenhilfe Hessen (DAH), die nun erfolgreich zu Ende gebracht werden konnten. Wird der Tarifvertrag unterzeichnet, wäre es der erste in der Diakonie Hessen.

Ein Marathon mit Hürden

Der Tarifvertrag ist ein gemeinsames Projekt von ver.di und dem DAH, aber dennoch ist die Einigung alle andere als ein »Selbstläufer«. Naturgemäß lagen zunächst zwischen den Verhandlungspartnern in dem zweijährigen Verhandlungszeitraum die Vorstellungen bei der Gestaltung der Entgelte und weiteren Arbeitsbedingungen für die mehreren tausend Altenpflegebeschäftigten weit auseinander. Wir berichteten im Kircheninfo Nr. 36. Noch zu Beginn des Jahres 2021 sah es danach aus, als könnte das ganze Leuchtturmprojekt in der diakonischen Altenpflege Hessen scheitern. Selbst als man sich in den meisten Punkten bereits einig war, hielten die Arbeitgeber an ihrer Forderung fest, die Senkung der wöchentlichen Arbeitszeit durch die Beschäftigten selbst zahlen zu lassen – doch das war keine Option für ver.di. Die Verhandlungen waren demnach kein Sprint, sondern eher ein Marathon inklusive Hürdenlauf. Doch der lange Atem hat zum Erfolg geführt, die Tarifeinigung wurde erreicht.

Durchhalten erforderlich

Das notwendige Durchhaltevermögen haben leider nicht alle Beteiligten gehabt. Drei Träger sind noch kurz vor dem Zieleinlauf aus dem Arbeitgeberverband ausgetreten und haben sich somit vorerst aus dem gemeinsamen Tarifprojekt verabschiedet. Sowohl Mission Leben als auch die Gesellschaft für diakonische Einrichtungen haben sich als maßgebliche Träger von Beginn an für das gemeinsame Projekt eingesetzt. Es war verständlich, dass das für Ärger und Unverständnis bei den Beschäftigten der beiden Träger gesorgt hat. Deshalb fanden im August Proteste unter anderem vor den Einrichtungen statt. Es wäre ihren Beschäftigten gegenüber angemessen, dass sie in den Arbeitgeberverband und somit zur Tarifeinigung zurückkehren.

Inhalte der Tarifeinigung

An die Stelle der Arbeitsvertragsrichtlinien Kurhessen-Waldeck (AVR-KW) und Hessen-Nassau (AVR-HN) tritt der Tarifvertrag für die Beschäftigten, deren Arbeitgeber Mitglied im DAH sind. Neben einer zum Teil deutlich höheren monatlichen Vergütung werden die Zuschläge deutlich erhöht sowie die Arbeitszeit in Stufen auf 38,5 Stunden pro Woche gesenkt. Künftig wird es eine Jahressonderzahlung geben, die in ihrer Höhe feststeht. Für viele Beschäftigte ist das ein deutlicher Fortschritt, denn nach den AVR wurde sie in Hessen bislang zunächst nur anteilig ausgezahlt und in Abhängigkeit vom Betriebsergebnis dann vielerorts gar nicht vollständig gezahlt. Eine Überleitungsregelung von den AVR in den Tarifvertrag sorgt dafür, dass viele Beschäftigte künftig eine höhere Vergütung erhalten. In den Fällen, wo das gegebenenfalls nicht der Fall wäre, gleicht eine Besitzstandszulage Differenzen aus, so dass niemand weniger Geld erhält. Auch von künftigen Entgeltsteigerungen werden Beschäftigte mit Besitzstandszulagen profitieren, da jede Erhöhung zu lediglich maximal zehn Prozent auf die Zulage angerechnet werden kann.

 

Tarifergebnis

  • Reduzierung der Wochenarbeitszeit: ab 1. April 2022 in Kurhessen-Waldeck von 39 auf 38,5 Stunden/Woche, in Hessen-Nassau ab 1. April 2022 von 40 auf 39 Stunden/Woche, ab Januar 2024 auf 38,5 Stunden/Woche
  • höhere Monatsentgelte für die meisten Beschäftigten, gleichzeitig erhält niemand weniger als bisher
  • zum 1. April 2023 steigen alle Tabellenentgelte um weitere 3,03 Prozent
  • Deutlich höhere Zeitzuschläge für Nacht-, Sonn-und Feiertagsarbeit als nach AVR
  • Bis zu 4 Tage Zusatzurlaub für Nacht- und Schichtarbeit sind einfacher erreichbar als nach AVR
  • Jahressonderzahlung nicht mehr wie in den AVR vom Betriebsergebnis abhängig, sondern als Festbetrag in Höhe von 1753 Euro in 2022 und 1806 Euro in 2023 (Teilzeit jeweils anteilig)
  • verlässlichere Dienstpläne: 5-Tage-Woche, planbare Freizeit, innerhalb von 14 Tagen garantiert ein freies Wochenende, Einspringen aus dem Frei ist kein Dauerzustand mehr: Maximal zweimal pro Monat ist Einspringen möglich, dann mit einer Prämie über 70 Euro vergütet, für die Vertretungsbereitschaft mit 30 Euro, bei tatsächlichem Einsatz mit 55 Euro
  • 30 Tage Erholungsurlaub (höhere Ansprüche bleiben erhalten)
  • betriebliche Altersversorgung weiterhin über EZVK
  • Kinderzuschlag bleibt erhalten
  • Bonuszahlung für alle ver.di-Mitglieder über 150 Euro zum Februar 2022
  • demokratische Beteiligungsmöglichkeiten und transparente Tarifverhandlungen

 
Entgelte

Neuer Tarifvertrag in der Diakonie

Wieder zeigt sich, wenn Arbeitgeber die Tarifpartnerschaft mit ver.di eingehen, können gemeinsam gute Ergebnisse erreicht werden – kirchliche Trägerschaft hin oder her. Denn wie so oft gilt: Wer etwas erreichen möchte, findet Lösungen. Wer etwas nicht will, findet Probleme. Bundesweit verweigert man sich in vielen Bereichen der Diakonie gegen Tarifverhandlungen mit ver.di, da man sich im so genannten »Dritten Weg« befände und ohne Streikverzicht der Gewerkschaften keine Tarifverhandlungen möglich sind. Niedersachsen, große Teile der Nordkirche, die Stadtmission Heidelberg und nun auch diakonische Arbeitgeber in der diakonischen Altenhilfe Hessen beweisen, dass sie mit ver.di als Sozialpartnerin zu gemeinsamen Tariflösungen am Verhandlungstisch gelangen. Ist dafür ein grundsätzlicher Streikverzicht der Beschäftigten nötig? Nein. Denn einerseits gehen beide Seiten davon aus, in erster Linie am Verhandlungstisch zu einem echten Konsens zu gelangen. Andererseits ist ein Schlichtungsverfahren für den Konfliktfall vorgesehen, das allerdings keine Einigung ersetzt, sondern eine Empfehlung an die Tarifpartner vorsieht. Die Entscheidungshoheit über einen Einigungsvorschlag bleibt bei den Tarifparteien. Die ver.di-Mitglieder entscheiden also selbst, ob sie ein Ergebnis annehmen möchten. Sie können kein Ergebnis von der Schlichtung aufgezwungen bekommen, wie im so genannten »Dritten Weg«. Führt die Schlichtung nicht zum Erfolg, wären Arbeitskämpfe möglich. Notwendig war das bislang noch in keinem der oben genannten Bereiche. Sind die Ängste vieler kirchlicher Arbeitgeber also wirklich begründet oder eher vorgeschoben, weil es einfacher ist, den eigenen Willen in Arbeitsrechtlichen Kommissionen durchzusetzen?

Darauf kommt es jetzt an

Das aktuell verhandelte Tarifergebnis ist zunächst eine Einigung zwischen ver.di und DAH. Beide Tarifparteien haben sich über eine Erklärungsfrist bis zum 31. Dezember 2021 verständigt. Es handelt sich dabei um ein übliches Prozedere bei Tarifverhandlungen und bedeutet, in dieser Zeit haben beide Seiten Zeit, sich mit ihren Mitglieder zurück zu koppeln und die Annahme des Tarifergebnisses zu erklären. Erst dann wird aus der Einigung ein Vertrag. Ob ver.di den Tarifvertrag unterzeichnet, hängt davon ab, ob die Beschäftigten ihn haben möchten. Seit der Einigung im Oktober werden die Beschäftigten bei den Arbeitgebern des DAH informiert und aufgefordert, ver.di ein Mandat für die Unterzeichnung des Tarifvertrags zu geben. Konkret: Sie sind aufgefordert, sich in ver.di zu organisieren. Die Tarifeinigung enthält deutliche Verbesserungen gegenüber den AVR-KW und AVR-HN, die Kolleginnen und Kollegen müssen nur noch zugreifen und können künftig ihren Tarifvertrag weiterentwickeln. Sie wären nicht mehr abhängig von den Hinterzimmerverhandlungen der Arbeitsrechtlichen Kommission in Hessen. Mit Wirkung zum 1. April 2022 könnte der Tarifvertrag in Kraft treten.

Wichtiges Signal für die Altenpflege

Die Tarifeinigung für die diakonische Altenhilfe in Hessen ist für die gesamte Branche ein wichtiges Signal. Nachdem die Arbeitgeber der Caritas Anfang des Jahres eine branchenweite Erstreckung des Tarifvertrags über Mindestbedingungen zwischen ver.di und BVAP verhindert haben, die für viele Beschäftigte bundesweit bis zu 25 Prozent mehr Lohn bedeutet hätten, ist eine wichtige Chance für die Branche verpasst worden. Aber auch weder der Pflegemindestlohn noch das  Gesetz der letzten Bundesregierung zur Erhöhung der Tarifbindung in der Altenpflege sind abschließende Lösungen, um Niedriglöhne in der Altenpflege zu verhindern. Die Tarifeinigung mit guten Bedingungen für immerhin mehrere tausend Beschäftigte in Hessen wirkt dieser Situation entgegen. Selbstverständlich dürfen sich weitere diakonische Arbeitgeber in der Altenhilfe in Hessen dazu ermutigt sehen, ebenfalls Mitglied der Tarifpartnerschaft zwischen ver.di und dem DAH zu werden.

 

Dieser Artikel ist im Kirchen.info Nr. 38 erschienen.

 

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