Tausende Beschäftigte aus Kliniken und Pflegeinrichtungen demonstrieren auch in diesem Jahr zur Gesundheitsministerkonferenz in Leipzig. Spahn verspricht weitere Verbesserungen.
Es hat schon fast Tradition: Wann immer die Gesundheitsminister*innen der Länder und des Bundes zu ihrer alljährlichen Konferenz zusammenkommen, gehen Beschäftigte aus Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen zu Tausenden auf die Straße. So war es auch am Mittwoch (5. Juni 2019) in Leipzig. Rund 2.000 Kolleginnen und Kollegen machten in der Sachsenmetropole lautstark darauf aufmerksam, dass sich die Bedingungen immer noch nicht verbessert haben. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) stellte sich wie im Vorjahr in Düsseldorf den Demonstrant*innen – und musste sich erneut gellende Pfiffe und Kritik anhören.
»Vor einem Jahr in Düsseldorf habe ich gesagt: Wir haben verstanden«, erklärte Spahn auf der ver.di-Kundgebungsbühne. »Und jetzt sage ich: Wir haben begonnen.« Der Minister verwies darauf, dass die ver.di-Forderung nach Herausnahme der Pflegepersonalkosten aus den Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRG) beschlossene Sache sei und ab dem 1. Januar 2020 umgesetzt werden soll. »Das ist die größte Veränderung in der Fallpauschalensystematik seit über 20 Jahren!« Auch mit der vollen Refinanzierung zusätzlicher Pflegestellen und von Tariferhöhungen habe die Bundesregierungen Verbesserungen eingeleitet.
»Das ist der erste Schritt. Nun müssen wir die Arbeitsbedingungen so attraktiv machen, dass es gelingt, die Stellen auch zu besetzen«, sagte Spahn, der sich sogar die ver.di-Forderung nach »verbindlichen Personalbemessungsinstrumenten in der Kranken- und Altenpflege« zu eigen machte. An die Beschäftigten der Altenpflege appellierte er, »sich zu organisieren und mitzuhelfen, dass es zu einem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag kommt«. Dass ein CDU-Minister auf einer ver.di-Kundgebung zum Eintritt in die Gewerkschaft aufruft, hat sicher Seltenheitswert. Bei den Demonstrant*innen kam er damit dennoch nicht gut an. Sie machten immer wieder deutlich, dass ihre Geduld längst aufgebraucht ist. »Das reicht nicht« und »Mehr von uns ist besser für alle«, ließen sie Spahn in Sprechchören wissen.
»Wir haben die Politik in Bewegung gebracht«, bilanzierte die Leiterin des Bereichs Gesundheitspolitik beim ver.di-Bundesvorstand, Grit Genster. »Die Fallpauschalen sind zumindest angebohrt. Doch es muss weitergehen: Die DRGs gehören ganz abgeschafft.« Den Verweis auf den Fachkräftemangel in der Pflege – den die Arbeitgeber gegen die Forderung nach verbindlichen Personalvorgaben ins Feld führen und auf den auch Spahn mehrfach verwies – ließ die Gewerkschafterin nicht als Ausrede gelten. »Wir können uns keine Fachkräfte backen? Können wir doch – die Rezepte dafür haben wir!«
Diese Rezepte wurden denn auch gleich von »Dr. ver.di« an den Bundesminister übergeben: angemessene Bezahlung nach Tarif, bedarfsgerechte Personalstandards, bessere Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen. Regelrecht überladen wurde der Minister mit Unterschriftenrollen des »Olympischen Briefs«, der in den vergangenen Wochen durch 80 Städte wanderte und von Zehntausenden unterzeichnet wurde.
»Solange im Arbeitsalltag der Beschäftigten keine Entlastung zu spüren ist, lassen wir den Druck nicht aus dem Kessel«, stellte Genster klar. Sie hob hervor, dass sich mittlerweile eine breite Allianz für bedarfsgerechte und bundeseinheitliche Personalvorgaben in der Kranken- und Altenpflege gebildet hat – inklusive der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), die sich lange gegen diese Forderung gewehrt hatte. »Es ist gut, dass auch die DKG dies nun erkannt hat. Doch es dürfen keine Lippenbekenntnisse bleiben«, so Genster. Deutliche Kritik übte die Gewerkschafterin an den aktuell von DKG und Krankenkassen im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) diskutierten Plänen für neue Personalstandards in der Psychiatrie. ver.di plädiert dafür, die seit 1991 geltende Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV) in eine »Psych-PV plus« weiterzuentwickeln. Stattdessen könnte der G-BA nach bisher bekannten Informationen sogar noch hinter den Standard der Psych-PV zurückfallen. »Eine solche Psych-PV minus wäre ein Rückfall ins Mittelalter«, kritisierte Genster.
Neben bedarfsgerechten Personalstandards steht für ver.di eine angemessene Bezahlungganz oben auf der Agenda – insbesondere in der Altenpflege. Es könne nicht angehen, dass examinierte Altenpfleger*innen in Sachsen-Anhalt in Vollzeit zum Teil weniger als 2.000 Euro brutto im Monat verdienten. Vor diesem Hintergrund müsse der Plan zur Schaffung eines flächendeckenden Tarifvertrags in der Altenpflege schnellstmöglich umgesetzt werden. »Der Ball liegt im Feld der Arbeitgeber«, betonte Genster und forderte besonders die kommerziellen Pflegefirmen und ihren Verband bpa auf, »Teil der Lösung und nicht länger Teil des Problems zu sein«.
»Es ist ein gutes Gefühl, dass die Pflege jetzt in aller Munde ist«, meinte Bettina Walker von der Samariterstiftung Nürtingen. »Das haben wir erreicht, weil so viele mitmachen und demonstrieren – so wie heute.« Die Altenpflegerin war mitten in der Nacht, um viertel nach drei, in Stuttgart in den Bus gestiegen, um den politisch Verantwortlichen in Leipzig zu zeigen, wie unzufrieden sie ist. »Was getan wird, ist nicht genug. Bis jetzt merke ich an der Basis von Entlastung nichts«, brachte die Altenpflegerin die Erfahrung vieler ihrer Kolleg*innen auf den Punkt. »Die Pflege ist zum Teil nicht mal mehr satt und sauber – das ist unwürdig«, so die 37-Jährige.
Auch in den Reha-Einrichtungen herrschen teilweise unhaltbare Zustände. »Wir finden kein Personal mehr, weil in vielen Reha-Einrichtungen keine Tariflöhne bezahlt werden. Auch hinken wir bei Urlaubstagen, der Wochenarbeitszeit und der Finanzierung von Weiterbildungen hinterher«, berichtete Petra Bierlein von der Reha-Tochter der Sozialstiftung Bamberg. Auch in der Reha müssten Tariflöhne vollständig refinanziert werden, forderte sie.
Die Krankenschwester Helga Kopton aus den SLK-Kliniken Heilbronn hält die Maßnahmen der Bundesregierung nicht nur für unzureichend, sondern teilweise für schädlich. So habe die Einführung von Pflegepersonaluntergrenzen in lediglich vier Bereichen nicht für Entlastung gesorgt, sondern für mehr Durcheinander, da Stationen zusammengelegt und umdeklariert wurden. Kopton, die seit 28 Jahren in der Pflege arbeitet, sieht in der Ökonomisierung des Gesundheitswesens das grundlegende Übel. »Die Krankenhäuser sind zu Wirtschaftsunternehmen geworden, die Patienten zur Ware.« Es könne nicht angehen, dass sich kommerzielle Firmen »die Rosinen aus dem Kuchen picken« und damit viel Geld verdienten.
Das betonte auch der Arzt Peter Hoffmann vom Städtischen Klinikum München: »Andere DAX-Konzerne sind neidisch darauf, wie viel Profit private Klinikketten wie Helios aus ihren Betrieben herauspressen.« Medizin und Pflege müssten »vom Diktat der Ökonomie befreit werden«, forderte der Mediziner, der im Namen des Bündnisses »Krankenhaus statt Fabrik« auf der Kundgebung sprach. Die Abschaffung der Fallpauschalen würde unmittelbar zu einer Entlastung der Beschäftigten führen, ist Hoffmann überzeugt. »Allein schon dadurch, dass dann nur solche Behandlungen und Operationen durchgeführt werden, die auch tatsächlich eine saubere Indikation haben.« Das DRG-System schaffe hingegen Anreize auch für medizinisch unnötige Maßnahmen.
»Solange die DRGs in dieser Form da sind, wird sich nichts Grundlegendes ändern«, ist auch die OP-Fachkraft Jana Langer aus dem Uniklinikum Ulm überzeugt, die in den Medien schon oft auf die fatalen Zustände in den Krankenhäusern hingewiesen hat. Die vom Bundestag beschlossene Herausnahme der Pflegepersonalkosten aus den Fallpauschalen sei ein erster Schritt. Noch aber sei völlig unklar, wie das konkret umgesetzt werden soll. Dennoch ist die Krankenpflegerin sicher, dass sich der Protest lohnt. »Hartnäckigkeit siegt. Wir geben nicht auf – irgendwann werden wir damit richtige Veränderungen bewirken.« Klar ist schon jetzt: Ist das in einem Jahr noch nicht der Fall, werden die Gesundheitsminister*innen auch bei ihrer nächsten Konferenz – dann in Berlin – nicht unbehelligt tagen können.
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