Tarifbewegung Entlastung

»Es ergreift die Köpfe und Herzen«

12.04.2017

Die Tarifbewegung für Entlastung in Saarlands Krankenhäusern hat schon viel erreicht. Michael Quetting, ver.di-Sekretär im Fachbereich Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen des Bezirks Saar-Trier und dort zuständig für die Krankenhäuser, zieht im Interview eine Zwischenbilanz.

 
Michael Quetting

Zwei Warnstreiks, etliche Aktionen, hunderte ver.di-Beitritte, etliche neue Aktive – im Saarland ist eine große Bewegung für Entlastung und mehr Personal im Krankenhaus entstanden. Wie hat sich das entwickelt?

Das ist nicht aus dem luftleeren Raum entstanden. Seit mehreren Jahren thematisieren wir die Personalnot in den Kliniken und fordern eine gesetzliche Personalbemessung. Dazu haben wir eine Vielzahl von Aktionen gemacht. Im Oktober 2015 ist auf einem Symposium die Idee für einen Tarifvertrag Entlastung entstanden. Seither versuchen wir intensiv, die Kolleginnen und Kollegen für dieses Ziel zu mobilisieren und zu organisieren.

ver.di hat in kurzer Zeit hunderte neue Mitglieder unter den Krankenhausbeschäftigten gewonnen. Wie habt ihr das geschafft?

Seit die Idee des Tarifvertrags Entlastung im Oktober 2015 geboren wurde, sind über 900 Krankenhausbeschäftigte bei ver.di eingetreten. Aber nicht nur das. Die Teams in den Häusern haben mehr als 550 Tarifberater/innen bestimmt. Über 1.000 Menschen haben erklärt, sich aktiv für einen Tarifvertrag Entlastung einsetzen zu wollen. Das ist die aktive Basis der Bewegung. Der Schlüssel ist systematische Erschließung. Das heißt, sich für jedes Krankenhaus konkret zu überlegen: Wo sind die jetzigen Mitglieder? Wie viele und welche müssen wir werben, um kampffähig zu werden? Und dass setzen wir dann um. Unterstützt wurden wir dabei für drei Monate durch professionelle Organizer, die uns geholfen haben, systematische Mitgliederwerbung zu betreiben.

Über die Hälfte der Neumitglieder ist jünger als 30. Ist damit das Vorurteil widerlegt, Jüngere würden sich für Gewerkschaften nicht interessieren?

Ich habe das nie geglaubt. Entscheidend ist: Das Thema Entlastung ergreift die Köpfe und Herzen der Menschen. Wer ist von den unhaltbaren Zuständen besonders betroffen? Diejenigen, die noch viele Jahre im Beruf vor sich haben. Die gut ausgebildet sind und sich fragen: Warum kann ich das, was ich gelernt habe, im Alltag nicht umsetzen? Gerade diese jungen Kolleginnen und Kollegen sind bereit, sich für Veränderung zu engagieren. Und sie sehen ein, dass man sich dafür organisieren muss – wenn sie systematisch darauf angesprochen werden. Wir haben ihnen nicht allgemein erklärt, warum es wichtig ist, in der Gewerkschaft zu sein. Sondern wir haben ihnen konkret erklärt: Wir wollen einen Arbeitskampf für Entlastung vorbereiten, dafür brauchen wir dich.

Wie haben die Klinikleitungen reagiert?

Sie haben immer auf andere verwiesen: Die kommunalen Kliniken sagten, die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) untersage ihnen, mit uns über einen Tarifvertrag Entlastung zu verhandeln. Das Uniklinikum behauptete, die Landesregierung verbiete ihr Verhandlungen. Die kirchlichen Träger argumentierten mit dem kircheninternen Dritten Weg, weshalb sie nicht mit der Gewerkschaft verhandeln könnten. Diese Blockade der Arbeitgeber mussten wir aufbrechen. Das haben wir geschafft. Wir haben eine Bresche in diese Blockademauer geschlagen: Sowohl die Uniklinik und die DRK-Kliniken als auch die katholische Marienhaus-Gruppe und die Caritas haben dem Druck nachgegeben und wollen verhandeln.

Das Besondere der Tarifbewegung Entlastung im Saarland ist ja, dass wir alle Krankenhausträger zu Tarifverhandlungen aufgefordert haben, obwohl sie nicht in einem Arbeitgeberverband organisiert sind. Wir haben erklärt, dass wir in mindestens elf der 21 Kliniken Tarifverträge erreichen wollen, um nicht einzelne Häuser in der Konkurrenz zu schädigen. So weit sind wir noch nicht. Aber wir haben die Ablehnungsfront der Arbeitgeber gespalten. Das ist ein erster großer Erfolg, auch wenn wir nicht wissen, was bei den Gesprächen herauskommt.

Schon im Vorfeld haben die Teams in den Kliniken Tarifberater/innen gewählt. Vor und während der Streiks sind Delegierte zu Konferenzen zusammengekommen. Welche Rolle spielt das?

Das spielt eine ganz große Rolle. Wir haben versucht, neue demokratische Formen der Beteiligung zu entwickeln. Wir haben den Leuten die Möglichkeit gegeben, konkret an einem Projekt mitzuarbeiten – an der Tarifbewegung Entlastung –, unabhängig davon, zu welcher Art von Mitarbeiter in der Gewerkschaft sie sonst noch bereit sind. Die Tarifberater/innen bringen die Gedanken ihrer Teams bei Delegiertenkonferenzen ein. Sie entscheiden auch über grundsätzliche Fragen. Zudem haben wir einen großen und einen kleinen Koordinierungskreis geschaffen, die die Aktivitäten organisieren. Wir haben also mit verschiedenen Formen experimentiert, die uns eine schnelle Kommunikation mit den Teams auf den Stationen und in den Bereichen ermöglichen. So repräsentierten beim ersten Delegiertenstreik am 23. Januar 184 Delegierte insgesamt 3.749 Beschäftigte. Das ist ein sehr effektives System, mit dem wir rasch und demokratisch Entscheidungen treffen können.

Das aufzubauen, war nicht nur eine Frage der Demokratie, sondern auch notwendig, um die Betriebe durchzuorganisieren. Die Tarifberaterinnen und Tarifberater zu gewinnen, war ein ganz wichtiger Schritt, um mobilisierungsfähig zu werden. Übrigens ist das nicht statisch: Manche Tarifberater/innen hören wieder auf, andere kommen dazu. Da ist ständig Bewegung.

 

Bestimmen die Tarifberater/innen tatsächlich darüber mit, was die Gewerkschaft tut?

Ja, natürlich. Die Konferenzen haben Resolutionen beschlossen, die die nächsten Schritte in der Auseinandersetzung festgelegt haben. Es gab bei den Treffen stets Arbeitsgruppen, die sich intensiv mit den Fragen beschäftigt haben. Am Ende wurden die Beschlüsse allesamt einstimmig gefällt. Das zeigt: Wir haben es geschafft, die Interessen einzelner Gruppen und der Gesamtheit auszutarieren – indem wir über alles offen diskutiert haben. Das übergreifende Interesse aller ist: Wie kommen wir mit der Bewegung für Entlastung weiter? Trotz ganz unterschiedlicher Befindlichkeiten und Stimmungen ziehen hier alle an einem Strang.

Auch in den katholischen Kliniken hat ver.di weit mehr als 100 neue Mitglieder gewonnen. Wie kommt das?

Die Überlastung in den katholischen Krankenhäusern ist genauso groß wie anderswo. Wir haben frühzeitig diskutiert, dass wir die Probleme nur angehen können, wenn es uns gelingt, die kirchlichen Einrichtungen in die Bewegung einzubeziehen. Im Sommer 2016 haben wir deshalb eine Schleife gedreht und Aktionen aufgeschoben, um die Kolleg/innen von Caritas und Diakonie mitzunehmen. Wir haben direkt an sie appelliert, sich zu beteiligen. Das hat allerdings erst funktioniert, als wir systematisch auf die Beschäftigten zugegangen sind. Es reicht also nicht, sich vor das Haus zu stellen und zum Streik aufzurufen. Man muss gezielt auf die Kolleg/innen zugehen und ihnen eine Möglichkeit aufzeigen, aktiv zu werden. So haben sich beispielsweise Kolleginnen und Kollegen in zwei Häusern untereinander verpflichtet, dass sie sich am Streik beteiligen, wenn eine Mindestzahl von Beschäftigten ihre Teilnahme erklärt. Das hat ihnen mehr Sicherheit gegeben.

Zudem haben wir in den Klinikseelsorgern einen wichtigen Bündnispartner. Ausgehend von der christlichen Soziallehre setzen sich viele von ihnen gemeinsam mit uns für Entlastung ein. Unser Ausgangspunkt war übrigens nicht die Kritik am kircheninternen Dritten Weg. Wir haben nicht gesagt: Ihr müsst erst den Dritten Weg verlassen und könnt dann mit uns für Entlastung streiten. Die Kolleg/innen und Mitarbeitervertretungen können auch mitmachen, wenn sie die ver.di-Position zum Dritten Weg nicht teilen. Mit der Hoffnung, dass sie in der Auseinandersetzung verstehen: Für verbindliche Regelungen brauchen wir einen Tarifvertrag – und den schließt die Gewerkschaft.

Reagieren kirchliche Träger nicht zum Teil empfindlich, wenn sich ihre Beschäftigten in ver.di organisieren und über den Dritten Weg hinausgehen?

Doch, deshalb nutzen wir alle Möglichkeiten der Kommunikation. Es gibt wöchentliche Stammtische für Entlastung, die Leute koordinieren sich über WhatsApp-Gruppen und anderes. Das hat dazu beigetragen, dass sie sich nicht erschrecken lassen, wenn der Arbeitgeber Verbote ausspricht. Als den Teams untersagt wurde, bei einer Foto-Aktion für Entlastung mitzumachen und Bilder von den Stationen im Internet hochzuladen, haben sie sich privat getroffen, ein Foto gemacht und es im ganzen Betrieb per Flugblatt verteilt. Oder sie haben ihre Arbeitssituation in Playmobilfiguren dargestellt und diese fotografiert. Fazit: Man darf sich nicht davon abschrecken lassen, dass die Bedingungen in katholischen Häusern zum Teil anders sind. Die Kolleginnen und Kollegen selbst sind nämlich nicht anders. Sie sind genauso zu begeistern wie in anderen Krankenhäusern.

 

Die Mobilisierung in den Kliniken hatte großen Einfluss auf den Landtagswahlkampf. Die Regierung hat versprochen, im nächsten Krankenhausplan Mindestvorgaben beim Pflegepersonal zu machen. Zudem hat sie im Bundesrat eine Initiative eingebracht, die über die Pläne der Bundesregierung hinausgeht. War das nur Wahlkampfgetöse?

Der Zeitplan war natürlich kein Zufall. Wir wollten das Thema Entlastung für die Pflege im Landtagswahlkampf setzen. Dass uns das gelungen ist, ist ein Erfolg. Wenn sich Parteien wie die CDU – von denen wir das ja sonst nicht kennen – der Überlastung annehmen, ist auch das ein Erfolg. Es ist ein Zeichen dafür, dass das Problem der Personalnot mitten in der Gesellschaft angekommen ist. Das ist gut so.

Ob und wie die Versprechen aus dem Wahlkampf umgesetzt werden, wissen wir nicht. Doch schon die Beschlüsse der Bundesregierung bedeuten einen enormen Fortschritt und stehen in Widerspruch zum marktwirtschaftlichen Finanzierungssystem der Fallpauschalen (DRG). Auch wenn es Personaluntergrenzen zunächst nur in Teilbereichen geben soll, wird damit zugegeben: Das Gesundheitswesen lässt sich nicht allein über den Markt steuern. Das ist unser Erfolg. Und wenn die saarländische Landesregierung sagt, das gehe ihr nicht weit genug, ist auch das unser Erfolg. Selbstverständlich gehen unsere Vorstellungen über die der Bundes- und Landesregierung hinaus. Dennoch: Es ist uns gelungen, Widersprüche zwischen der Großen Koalition im Saarland und im Bund sichtbar zu machen und für das Ziel Entlastung zu nutzen. Was am Ende dabei herauskommt, hängt auch davon ab, ob es uns in den kommenden Monaten gelingt, den Druck auf die Politik aufrechtzuhalten.

Unter dem Motto »Aufstehn für die Pflege« konzentrieren sich die ver.di-Aktionen im Saarland auf Pflegekräfte. Fast alle Neumitglieder kommen aus der Pflege. Was ist mit den anderen Berufsgruppen im Krankenhaus? Sind sie nicht wichtig? Sind sie nicht auch überlastet?

Klar ist: ver.di ist die Gewerkschaft für alle Berufsgruppen im Krankenhaus und im Gesundheits- und Sozialwesen. Und wir wollen Entlastung für alle Beschäftigten erreichen. Doch die Pflege ist von den Folgen der Ökonomisierung durch das DRG-System in besonderer Weise betroffen – nicht nur, weil sie die größte Berufsgruppe ist. Zugleich ist die Pflege schlecht organisiert. Auf Grundlage dieser Analyse haben wir uns im Saarland bewusst darauf konzentriert, Pflegekräfte zu mobilisieren. Wenn die Pflege ihre Arbeitskraft verweigert, geht im Krankenhaus nichts mehr. Das ist leider nicht bei allen Berufsgruppen so. Die Pflege hat also eine besondere Macht, die sie für Entlastung einsetzen kann.

Und die anderen?

Unter Pflege verstehe ich nicht nur Gesundheits- und Krankenpfleger/innen, sondern eigentlich alle, die mit der Patientenversorgung zu tun haben. Die Parole »Aufstehn für die Pflege« umfasst auch sie. Wenn es in der Pflege gelingt, Personaluntergrenzen zu erreichen und dem DRG-System dadurch einen Schlag zu versetzen, hilft das letztlich allen.

Richtig ist: Alle Berufsgruppen brauchen mehr Personal. Wir brauchen Systeme der Personalbemessung, die überall Mindestbesetzungen vorschreiben. Zum Beispiel in der Reinigung. Die gravierenden Hygieneprobleme der Krankenhäuser sind auch auf Arbeitsintensivierung und Lohndumping in diesem Bereich zurückzuführen. Mehr Pflegepersonal würde auch andere entlasten, zum Beispiel Ärzt/innen und Servicekräfte. Und: Ein Erfolg der Pflegekräfte würde andere ermutigen, sich die Zustände ebenfalls nicht länger gefallen zu lassen.

Kolleginnen und Kollegen anderer Regionen können zum Teil kaum glauben, was ver.di im Saarland bewegt hat. Inwiefern sind die Erfahrungen übertragbar?

Es mag im Saarland einiges anders sein, auch aus historischen Gründen. Aber das Bestimmende ist doch: Überall leiden Pflegekräfte unter Überlastung, überall können sie dafür gewonnen werden, sich für Entlastung einzusetzen. Die Frage ist aber: Konzentrieren wir uns als Gewerkschaft darauf, dort Durchbrüche zu erzielen, wo das möglich ist? Das sind meiner Meinung nach die Krankenhäuser und hier speziell die Pflege. Versuchen wir, diese Bereiche systematisch zu gewinnen, begeistern wir die Leute, bleiben wir am Ball? Wenn wir das tun, haben wir Erfolg, davon bin ich überzeugt. So gesehen gibt es keine grundlegenden Unterschiede zwischen Kliniken in Bayern, an der Ostsee oder im Saarland.

 

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