Pflegevollversicherung

22.10.2014
Klaus Kirschner

Klaus Kirschner ist besorgt. Besonders wenn er die Rentnerinnen und Rentner in den Blick nimmt, sich die sinkenden Renten vor Augen führt und die Kosten für die Pflege, die der Einzelne trotz Pflegeversicherung übernehmen muss. Wenn sich in der sozialen Absicherung nichts Gravierendes ändert, werden enorme soziale Probleme auf die Gesellschaft zukommen. Denn die Zahl der Älteren steigt – und damit auch die Zahl der Älteren, die sich eine würdige Pflege beim besten Willen nicht leisten können. Der SPD-Politiker Kirschner plädiert deshalb mit Nachdruck dafür, dass die Pflegeversicherung so schnell wie möglich in eine Vollversicherung umgewandelt wird.

Woran krankt die Pflegeversicherung?

Kirschner: Die Pflegeversicherung war immer als eine Teilversicherung angelegt. Das heißt: Die Versicherung übernimmt einen Teil der Kosten. Den anderen Teil muss der Pflegebedürftige und die Angehörigen aufbringen. Und diese Summe, die Monat für Monat fällig wird, übersteigt für viele Rentnerinnen und Rentner das, was sie finanzieren können. So sieht die Situation heute aus und das wird sich verschlechtern, wenn ich an das gesetzlich vorgegebene absinkende Rentenniveau erinnern darf. Schlimm ist es vor allem, wenn ein Ehepaar von einer Rente lebt und einer der beiden pflegebedürftig wird. Die Rente reicht in vielen Fällen nicht mehr, um einen Haushalt zu finanzieren und die Kosten für die Pflege aufzubringen – ob in der Wohnung gepflegt wird oder in einem Pflegeheim.

Und wie sieht es in Zukunft aus?

Kirschner: Der demografische Wandel bringt uns eigentlich Perspektiven, über die wir uns freuen müssten: Wir werden älter. Viele von uns werden auch länger gesund sein, länger ihren Lebensabend genießen können als ihre Eltern und ihre Großeltern. Doch eine steigende Lebenserwartung erhöht auch die Gefahr der Pflegebedürftigkeit. Es braucht wenig Phantasie, um sich auszumalen, wie die Situation in 20 Jahren sein wird. Die geburtenstarken Jahrgänge sind dann über 70 Jahre alt. Der Anteil der Pflegebedürftigen wird deutlich steigen. Hinzu kommt: Schon heute leben viele ältere Menschen allein. Selbst wenn sie Kinder haben, sind diese Kinder oft nicht in der Lage, ihre Eltern zu pflegen – weil sie in einer anderen Stadt wohnen oder weil sie berufstätig sind. Die Lebenssituation der Familien ist heute schon anders als vor 20 Jahren. Schon heute ist es nicht mehr  selbstverständlich, dass die Tochter oder die Schwiegertochter die Eltern pflegt. In Zukunft werden die pflegenden Angehörigen noch seltener werden – nicht weil sie nicht pflegen wollen, sondern weil sie aus beruflichen Gründen gar nicht pflegen können.

Bisher wird aber immer noch erwartet, dass die Frauen das machen.

Kirschner: So ist es. Doch das geht an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbei. Die Frauen sollen mobil sein, sollen der Wirtschaft zur Verfügung stehen, sollen gleichzeitig   Kinder bekommen. Und weil viele Frauen heute erst spät Kinder bekommen, fühlen sich viele Frauen in einem Spagat – sie kümmern sich um ihre oft noch kleinen Kinder, kümmern sich um die gebrechlichen Eltern, um ihren Beruf und den Haushalt. Kurzum: Die Gesellschaft beutet diese Frauen aus. Es wundert deshalb nicht, dass viele Eltern das Heim wählen – weil sie ihren Kindern keine Arbeit machen wollen.

Aber die Politik hat immer propagiert –„Ambulant vor stationär“

Kirschner: Die Politik hat das ambulante System propagiert, das stimmt und das ist auch richtig. Dabei hat sie auf die kostenlose Pflege der Angehörigen gesetzt. So gesehen, kam ambulant die Sozialkassen billiger als ein Leben im Heim. Denn die Angehörigen sind in der Regel rund um die Uhr da. Wenn eine 24-Stunden-Pflege organisiert werden muss, sieht die Rechnung ganz anders aus. Aber gute Pflege darf nie eine Frage des Geldes sein. Es geht um Würde für die Pflegebedürftigen.

Pflege soll auf die Pflegebedürftigen abgestimmt sein.

Kirschner: Genau. Es darf nicht länger darum gehen, dass Pflegebedürftige versorgt sind, dass sie sauber und satt sind. Wobei, wenn ich an die Berichte des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen erinnern darf, die zu oft Pflegedefizite aufzeigen. Es geht um Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Nicht der Geldbeutel darf darüber entscheiden, wie viel Würde mir als Pflegebedürftigem zuteil wird. Der Pflegebedürftige entscheidet, ob er lieber zu Hause in seiner Wohnung bleiben will oder in eine Einrichtung geht, ob er in einer Tagespflege versorgt wird oder ganz in einer Einrichtung lebt. Die Gesellschaft muss unterschiedliche Angebote offerieren. Das aber geht nicht mit einer Pflegeversicherung, die nur auf einem Bein steht.

Und das bedeutet?

Kirschner: Die Pflegeversicherung, wie wir sie heute kennen, ist nicht zukunftsfähig. Eine Teilversicherung kann keine Pflege in Würde bezahlen. Die Pflegeversicherung muss für die gesamte Pflege aufkommen, also auch für die gesellschaftliche Teilhabe. Das kann nur eine Vollversicherung. Deshalb müssen wir die Pflegeversicherung entsprechend umbauen. Das geht aber nur, wenn die Pflegeversicherung modifiziert wird. Dass die Beiträge dabei steigen, ist eine Binsenweisheit. Dadurch aber gewinnen die Menschen die Sicherheit, dass sie im Alter nicht alleine dastehen und auf Sozialhilfe angewiesen sind.

Auch die Kommunen würden entlastet?

Kirschner: Derzeit müssen die Kommunen immer öfter einspringen, das ist richtig. Die Ausgaben der Kommunen für die Pflege steigen. In den kommenden Jahren werden sich diese Summen aller Voraussicht nach weiter deutlich erhöhen, vorausgesetzt die Politik weigert sich zu handeln und die Pflegeversicherung zu modifizieren. Denn das Rentenniveau von heute sinkt bis 2013 von rund 51 auf 43 Prozent und das sind nur noch  anderthalb Jahrzehnte. Viele Rentner und insbesondere Frauen erreichen nicht einmal dieses Rentenniveau, bedingt durch die millionenfache prekäre Beschäftigung und beschissene Bezahlung während der Erwerbstätigkeit.  Das ist zwar politisch so gewollt, jedoch falsch und deshalb muss umgesteuert werden.

Dieser Umstand aber sorgt auch dafür, dass Pflegebedürftige einfach weniger Geld haben, mit dem sie die Pflege bezahlen können, so dass die Kommunen als Sozialhilfeträger einspringen müssen. Und seien wir nicht naiv: Der Staat wird auch in der Pflege nur das finanzieren, was dringend notwendig ist. Mit einer Vollversicherung nach skandinavischem Muster stünde ausreichend Geld zur Verfügung – für eine gute Pflege, für faire Arbeitsbedingungen und gute Entlohnung der Menschen, die professionell pflegen. Und auch für Teilhabe. Wir sind es uns und unseren Pflegebedürftigen schuldig, dass wir gute Angebote machen, dass eine humane Pflege das Ziel ist und im Mittelpunkt stehen muss. Und ich glaube, wenn wir uns öfter vergegenwärtigen würden, dass wir alle von einem Tag auf den anderen pflegebedürftig werden können, durch einen Unfall oder eine Krankheit oder bedingt dass die Kräfte nachlassen, dann würden wir uns leichter mit der Entscheidung tun, für eine Vollversicherung zu kämpfen.

Welche Rolle würde der Krankenversicherung dabei zukommen?

Kirschner: Derzeit unterscheiden wir zwischen medizinischer Versorgung und Pflege. Das ist eine Unterteilung, die oft paradox und gar nicht möglich ist. Die Folge: Die Krankenkasse will nicht bezahlen und verweist auf die Pflegeversicherung. Die Pflegeversicherung wiederum versucht, so viel wie möglich auf die Krankenkassen abzuschieben. Das ist verständlich, weil beide nichts zu verschenken haben. Für die Pflegebedürftigen ist das entwürdigend. Denn sie sind die Leidtragenden. Nein, diese Unterteilung muss endlich aufhören. Wir brauchen eine Kasse, die die Leistungen bezahlt und die Qualität der Leistungen kontrolliert. Der zu Pflegende muss im Mittelpunkt stehen. Wenn wir das akzeptieren, ist es vollkommen klar, dass es keine zwei Kassen beziehungsweise Versicherungen braucht. Dann ist auch klar, wie Pflege aussehen muss und dass an einer Vollversicherung kein Weg vorbei führt.

 

Klaus Kirschner ...

...saß viele Jahre für die SPD im deutschen Bundestag. Er setzte sich dabei für den sozialen Bereich ein, für die Gesetzliche Krankenversicherung und die Rentenversicherung. Kirschner hat sich aus dem Bundestag zurückgezogen. Die Sozialversicherung ist weiterhin sein Thema. So engagiert er sich im Sozialverband Deutschland (SoVD).